Lebensgemeinschaften für Menschen
mit und ohne geistige Behinderungen

Judith Walz war in der Arche Brüssel/Belgien

Was ist schon "normal"?

Judith Walz lebte und arbeitete vom Sommer 2012 bis zum Sommer 2013 in der Arche in der belgischen Hauptstadt. Sie erzählt von einer denkwürdigen Begegnung beim Cola-Einkauf, einer hohen Assistenten-Fluktuation und wie es ist, am selben Ort zu wohnen und zu arbeiten.

 

Aufgeregt war ich, als ich damals in den Zug stieg. Plötzlich tauchte da dieser Gedanke auf: Jetzt bist du von zu Hause ausgezogen! Gerade 18 Jahre alt und mit dem Abitur in der Tasche machte ich mich auf zu einem ganzen Jahr in der Arche-Gemeinschaft in Brüssel. Noch nie war ich so lange von zu Hause weg gewesen, noch nie hatte ich wirklich Verantwortung für einen Haushalt übernommen – und ich hatte weder jemals etwas mit Menschen mit Behinderungen zu tun gehabt, noch sprach ich Französisch.

Herzlicher Empfang

Als ich dann aber mein zukünftiges Zuhause, das Foyer „Le Toit“ betrat, wurde ich sofort herzlich in Empfang genommen. Man freute sich auf mich, hatte gar kein Problem mit der Sprachbarriere und gleich wurde mir alles gezeigt. Schon am ersten Abend fühlte ich mich in die Familie aufgenommen. Klar, es brauchte seine Zeit, bis ich mich eingelebt hatte – aber ich war sofort ein Teil der Gemeinschaft.

Großer Umbruch für alle Beteiligten

Am Anfang gab es viel zu lernen: die Regeln des Tagesablaufes, welche „Personnes“ (so werden die Bewohner mit Behinderungen in den belgischen Archen genannt) welche Hilfe benötigen, warum sie sich manchmal so und manchmal so verhalten. Die ersten beiden Monate waren die schwierigsten: In meinem Foyer gab es sechs Personnes, zwei Festangestellte, einen Jesuitenpater (der einmal die Woche im Foyer übernachtete) und immer zwischen drei und sechs Assistentinnen und Assistenten (eine davon war ich). Gerade letztere sind die Hauptverantwortlichen für den täglichen Ablauf. Sie sind diejenigen, die wirklich 24 Stunden am Tag ansprechbar sind.

Mit Beginn meines Freiwilligenjahres hatten die Assistenten komplett gewechselt. So mussten nicht nur wir uns neu zurechtfinden und ein Team bilden, sondern auch die Personnes sich an uns gewöhnen. Das ist gar nicht so einfach, denn zu der Arbeit in einer Arche gehört auch viel Vertrauen. Schließlich gehört es zum Konzept einer Arche, dass man sich umeinander kümmert. Aber auch diese Hürde überwanden wir alle zusammen und bald wusste ich auch ohne Worte, warum J. und M. manchmal weinen und wie man sie tröstet. Oder dass V. ab und zu nachts auf Wanderschaft geht. Auch mit der Hausarbeit gab es bald keine Probleme mehr. Ich glaube das Arche-Jahr war in dieser Hinsicht eine echte Vorbereitung auf das Leben für mich.

Was ist „normal“?

Aber auch sonst hat mich diese Zeit nachhaltig geprägt: Ich habe keine Berührungsängste mit Menschen mit geistigen Behinderungen mehr.

In der Arche selbst ist jeder Mensch so akzeptiert wie er ist. Hier wird jeder in seiner Unterschiedlichkeit bejaht und willkommen geheißen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wurde mir bei folgender Begebenheit bewusst: An meinem freien Tag war ich auf der Straße unterwegs und begegnete P., der auf dem Weg zu seinem wöchentlichen Cola-Einkauf war. Dass er die ganze Zeit mit sich selbst redet, war da nämlich plötzlich nicht mehr „normal“. Dabei ist der Dialog zwischen seinen beiden (lieben) Persönlichkeiten sowas von witzig, wenn man ihm mal eine Weile zuhört. Mit ihm hatten wir wirklich sehr viele tolle Momente.

 

Genau das ist es, was für mich die Arche ausmacht: Sie ist ein bunter Haufen unterschiedlicher Menschen, die zusammen in einer liebevollen Gemeinschaft leben und sich gegenseitig akzeptieren und unterstützen.

Ein außergewöhnliches Jahr

Bei all dem war das Jahr aber auch intensiv: Am selben Ort zu arbeiten und zu wohnen, bedeutet auch, dass man immer ansprechbar ist – auch an seinem freien Abend oder am Wochenende. Wenn man wirklich Pause haben will, muss man wegfahren. Obwohl mir der Abschied nach dem Jahr schwerfiel, wusste ich auch: Es ist Zeit für etwas Neues.

Im Rückblick war dieses eine Jahr ganz anders als alles andere, was ich bisher erlebt habe. Am schönsten aber war es, zu lernen, was für tolle Persönlichkeiten Menschen mit Behinderungen sind und dass man sich da gewiss häufig eine Scheibe abschneiden könnte. Noch heute denke ich oft an „Weisheiten“, die ich in der Arche gelernt habe. Die Grundlegendste ist aber wahrscheinlich die, dass jeder Mensch wertvoll ist – und zwar genau so wie er ist.

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